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DEAD ENDS & cake ´23

„Ich hab es geschafft!“, sage ich.

Sie antwortet leicht genervt: „Hast du Jens Roth schon wieder einen KOM abgenommen?“

Junior kaut sein Abendessen, er sieht noch nicht die Notwendigkeit eines Kommentars.

Ich erwidere: „Ja das auch, … aber, … aber ich bin dabei, ich habe eine Startplatz für DEAD ENDS & cake erhalten!“

Meine Hand ballt sich zur Jubelpose, meine Frau strahlt über das ganze Gesicht, ja selbst Junior zaubert diese E-Mail-Bescherung beim Abendessen ein Hauch von Ekstase ins Gesicht. Noch dreimal durchlesen, es stimmt, ich bin wirklich dabei im Juni.

Doch wo bin ich dabei? Dead Ends & Cake ist ein Self-Supported Bikepacking-Radrennen durch die Berge südlich von St. Gallen in der Schweiz. Ziel für alle Teilnehmer/-innen ist es eine Route zu finden, die fünf Checkpoints miteinander verbindet. Wie diese Route ausgestaltet wird, das dürfen alle, die teilnehmen für sich selbst entscheiden. Natürlich nur befahrbar mit einem muskelbetriebenen Rad und ohne Hilfe von außen. Rein zufällig ist jeder dieser Checkpoints auf einem Berg und ist jeweils auch nur über eine einzig seriös befestigte Zufahrt erreichbar – also fünf Sackgassen. An jedem Gipfel gibt es Kuchen, Stempel und wie ich herausfinden durfte Menschen, die mit Leidenschaft bei der Sache sind. Wurden alle Checkpoints besucht, dann geht es zurück zum Start und Zielort nach St. Gallen.

Es ist der 28.02.23, 18 Uhr als die Zusage für meine Teilnahme eintrifft. Jetzt geht es los, ich habe eine Mission, es gibt Kuchen, die verspeist werden wollen.

 

Checkpoints 1: Bischofalp - Wir fangen feucht an

Warum nur kann der Wetterbericht nicht hin und wieder mal unehrlich zu mir sein? Bevor ich auch nur den Start zu DeadEnds & Cake in Angriff nehmen kann, muss ich durch diese senkrechte Aneinanderreihung von Regentropfen, die ungefragt mein Gesicht benetzen. Meine Unterkunft in Trogen liegt oberhalb von St. Gallen. Die Menschen, die hier leben machen es richtig, denn sie schlafen am Morgen gegen fünf Uhr noch. So bleibt mehr für mich. Mehr Regen, mehr Straße gen Tal.

Wetter ist schon eines der größten Themen bei Radsportveranstaltungen. Ein gänzlich neues Themenfeld für mich, wie auch für andere, ist der Tracker. Das Ding, das die Bewegungen der Sportler/ -innen auf einer digitalen Karte visualisiert. Mein digitaler Fahrradpuls sozusagen. Nur wie kann ich das Ding anknipsen? Bei unserem kleinen Starterfeld von 90 Personen (paritätisch aufgeteilt) ist das Orga-Team schnell zur Hilfe. All die Tracker blinken fröhlich vor sich in den Tag hinein zwischen Ersatzschlauch und Müsliriegel in all den Radtaschen, als wir um sechs Uhr neutralisiert aufbrechen zum Gallusplatz in St. Gallen. Dort werden ein paar Runden um die Linde gedreht, bevor uns ein Countdown vom Orga-Team auf den Weg schickt.

Stell dir vor, es ist Radrennen und niemand macht Stress. Willkommen im Hier. Kein Schimpfen, kein Quietschen der Bremsen, keine Hektik. Jeder folgt seinem eigenen Weg, mal ruhiger, mal fokussierter. Viele bunte Punkte suchen sich ihren Weg hinaus aus der Stadt, schon 30min nach dem offiziellen Start bin ich allein mit mir und der Aufgabe. Ich habe mich, wie der kleinere Teil des Feldes für die Bischofalp als ersten Checkpoint entschieden. Kenntnisse der Gegend um St. Gallen sind bis auf ein paar rudimentäre Erinnerungen aus einem Familienurlaub von vor 30 Jahren nicht vorhanden. Deshalb ist meine Planung auf den direktesten Weg ausgerichtet. Erst sehr hügelig, dann ein langes Flachstück, bevor eine gleichmäßige ansteigende Straße mich an den ersten von fünf Bergen ins Laktat schickt. Gern würde ich mir nach 4,5 bis 5h und den ersten knapp 100km meinen ersten Stempel holen. Wird aber nix, dieser Berg ist vorbereitet und straft mich mit Schmerzen. Mit 40-42 ist für mich hier nichts zu holen, nicht einmal Aussicht, da der Nebel das schöne Bergpanorama für sich behält. Beim Betreten der Gaststube dudelt Hartmut Engler mit Pur aus dem Radio, während der nette Herr, dessen Name ich vergessen habe mir einen Stempel verpasst. Dritter am Checkpoint, ist in Ordnung. Beim Kuchen essen, vergesse ich die Zeit. Die Zeit fehlt mir vielleicht irgendwann im Ziel, doch diesen kleinen Plausch auszuschlagen, wäre der größere Verlust.  

 

Vorbereitung trifft Taktik

Mit dem Ausscheiden aus dem aktiven Gelände-Rennsport, habe ich mir zur Aufgabe gemacht, mich von Trainingsplänen fernzuhalten. Bitte nie wieder Grundlagentraining oder Intervalle nach Art des Hauses. Für gewöhnlich bediene ich mich bei Strava an den schönsten Segmenten der Region für die Intensität. Und für die Ausdauer fahre ich dann zwei bis drei lange Kanten wie z.B. ein schlanken 400er zu Opas 92. Geburtstag in diesem Jahr. Unterm Strich standen dann 4.000 Jahreskilometer in St.Gallen an der Startlinie. Taktisch ist die Sache schnell geregelt: kurze Pausen und geschlafen wird erst, wenn ich wieder in der Unterkunft bin.

Ich packe meinen Koffer und nehme mit:

1. Arschrakete mit Laufschuhen, Ersatzreifen, Jacke, Biwaksack, erste Hilfe Set und noch irgendwas

2. Rahmentasche mit 19 Gelbeuteln, 13 Riegeln, 2 Carazza, Geldbeutel, Powerbank, Kettenschloss, Sonnencreme

3. Lenkertasche mit drei Schläuchen, Werkzeug, Bremsbeläge, Pumpe, Kartusche, Sattelklemmschelle

4.  Sonst noch: Helm, Brille, zivile Klamotten, Radhose, Trikot, Regenjacke und –hose, Socken

Das alles trage ich zusammen und werfe es 6-7 Tage vor Abfahrt in die Raummitte. Ist der Tag der Abreise gekommen, dann ist im Idealfall alles, da wo es hingehört. Ein schmuckes Nicolai-Gravelbike mit einer 38mm Reifen nimmt das Gepäck mit an Bord.

 

Checkpoint 2: Calfeisental – Das Heidelbeerbuschversprechen

Meine Routen plane ich immer sehr direkt. Das kann gut gehen, muss es aber nicht. Um von Checkpoint 1 zu Checkpoint 2 zu kommen, gibt es zwei Optionen: mit 95 km vorbei am Walensee, oder direkt 32km über ganze „hohe Hügel“. Nach der Abfahrt von der Bischofalp kreuze ich die Hauptverkehrsstraße, direkt in den nächsten Berg hinein. Ich entscheide also mich für die kurze Variante.

Siggi ein Arbeitskollege wusste von meinem Vorhaben, er wollte mich noch einen Tag vorm Start davon abbringen, nur konnte er mich mehr nicht erreichen. Zu Beginn ist alles in Ordnung, steiler werdend zieht sich die Route auf Schotterstraßen in die Höhe. An der Baumgrenze wird der der Weg zu ruppig, so wechsle ich auf die Laufschuhe aus der Arschrakete. Auf den ersten Metern komme ich locker-flockig voran bis zu einer Hütte. Etwas orientierungslos gehe ich vor und zurück, wo ist der Weg? Es dauert bis ich erkenne, dass die weiß rot weiße Markierung auf der Bergwiese mir den Weg vorgibt. Ein steiler Pfad, wo das Rad mehr getragen, gewuchtet oder gezogen werden muss, bäumt sich vor mir auf. Schon nach wenigen Minuten ist mir klar, dass die Idee von der Abkürzung zu blauäugig und naiv von mir war. Doch umkehren will ich auch nicht. Diese Route habe ich so eingereicht und jetzt muss es halt wehtun. Spaß macht es nur sehr wenig in diesen Stunden. Meine von mir erhoffte Ankunftszeit im Calfeisental von 15 Uhr verschiebt sich … gegen unendlich. Bei jedem meiner Schritte bin ich mir im Klaren darüber, dass nach diesem Anstieg, es runter geht nur um im Anschluss einen noch höheren Berg zu überwinden. Erster Wandergipfel für heute ist der Foopass. Im Gefällestück passieren drei Damen meinen Weg. Sie wollen nicht reden. Sie werden die letzten Menschen für mehr als drei Stunden sein, denen ich begegne. Mit dem nächsten Anstieg wird es noch anspruchsvoller. Auf den Gebirgsbächen liegen noch dünne Schneedecken, die ich mit dem Rad nicht überqueren kann. So suche ich mir eine Stelle, wo der Schnee bereits geschmolzen ist. Jetzt „nur“ noch eine Böschung hochklettern. In einer Hand das Rad, in der anderen Hand der Heidelbeerbusch. Immer wieder rutsche ich ein bis zwei Meter ab, bis es mir endlich gelingt das Hindernis zu überwinden. Mein linkes Knie blutet, das Versprechen gegenüber meiner Frau, konnte ich nicht halten.

Das Heidelbeerbuschversprechen: Im letzten Sommerurlaub war ich alleine wandern in Österreichs Alpen und hatte auch dort schon mit ein – zwei Situationen zu kämpfen, die ich in Ansätzen als gefährlich bewertet habe. Vor meiner Abreise zu Dead Ends & Cake versprach ich meiner Frau, dass ich mich in diesem Fall von gefährliche Situationen fern zu halten versuche – das Heidelbeerbuschversprechen.

Von der einen Markierung laufe ich zur nächsten. Mein Rad bleibt immer wieder mit einem Pedal am Untergrund hängen, oder knallt mir gegen meine Beine. Ist es steil schiebe bzw. hebe ich, halte danach kurz inne, … weiter. Dieser Rhythmus bestimmt meinen Nachmittag. Alle fünf Minuten wechsle ich die Seite zum Schieben. Wenn ich aufblicke ist es der vergebliche Versuch in der mich umgebenden Bergkette den Durchschlupf ins Tal zu finden. Nichts. Diese Form der Einsamkeit kenne ich so nicht. In all der Monotonie ermahne ich mich im Selbstgespräch, doch auf solche Ausflüge in Zukunft zu verzichten.

Auf der Welt kommen über das Jahr hinweg mehr Menschen durch Kühe zu Tode als durch Haiangriffe.  Kann diese Statistik jemand bestätigen? Ich wusste erst seit ein paar Wochen davon. Und trotzdem fiel sie mir ein, als eine Kuh mir mit bösem Blick für einen Moment nachlief. Mein Nachmittag schreitet voran, als ich den vermeintlichen Gipfel erreiche. Jetzt muss es doch wieder ins Tal gehen? Tut es aber nicht. Der weiß-rot-weißen Markierung folgend, wartet ein kurzer Grat auf mich, bevor ich einen Abhang mit Schneefeldern quere. Das Klettern mit Rad gelingt recht solide. Mein Versuch ein Schneefeld in bestehenden Fußspuren zu kreuzen, gelingt nur bis der Schnee unter meinen Laufschuhen an einer Stelle nachgibt. Ich rutsche ein paar Meter abwärts, mein Rad mit mir. Bei aller Heldenhaftigkeit, mit der solche Ausflüge gern umschrieben werden, ist das ein Moment, in dem ich Angst bekomme. Volle Konzentration bis ich durch bin, sage ich zu mir. Die nächsten Schneefelder umgehe ich. Bleiben nur noch ein paar Kletterabschnitte. Geschafft, wirklich geschafft, höher komme ich nicht bei diesem Rennen.

Auch runter ist mein Track sehr verwinkelt und ausgesetzt. Mit dem Rad auf der Schulter wie beim Cross, komme ich in einer fast schon einfachen Passage zu Fall. Mit dem linken Fuß verpasse ich den Tritt. Für den ersten seitlichen Überschlag halte ich am Rad noch fest, dann komme ich zum Halt. Meine Frau und mein Sohn kommen mir in den Kopf, ich muss mich konzentrieren. An der zweiten Hütte, die ich im Bergabstück erreiche, steht ein Motorrad vor der Tür. Hier muss es ein Weg geben, der fahrbar ist, denke ich mir. So ist es auch. Ohne Schuhwechsel sitze ich nach Stunden wieder im Sattel in Richtung Calfeisental. St. Martin im Calfeisental ist ein malerischer kleiner Ort an einem See. Nach vielen Stunden begegne ich wieder Menschen, die auch mit mir reden wollen. Die Checkpointfamilien begrüßen mich mit Namen, ich würde sie gern umarmen, so sehr haben mich die letzten Stunden mitgenommen. Ich traue mich nur nicht.

 

Checkpoint 3: Nurdagn Alp - Probiers mal mit Gemütlichkeit

Meine vermeintliche Schlüsselstelle in der Route liegt hinter mir, nur den erhofften Zeitvorteil konnte ich mir nicht erfahren. Mit der einen oder anderen Macke am Rad rolle ich im Touristentempo am See entlang. Die Spannung des Nachmittags ist gewichen, so kann der Abend/die Nacht beginnen. An Checkpoint 1 wurde mir empfohlen den Kunkelspass aus Norden anzufahren. Das war ohnehin mein Plan, jetzt weiß ich auch warum. Von Norden her ist die Auffahrt weniger schwer. Dafür komme ich in den Genuss nach Süden hin abzufahren. Nach wenigen Metern in der Abfahrt kommt mir der spätere Sieger Ben Koch gerade entgegen, er lächelt noch. Die Abfahrt führt durch einen Tunnel oder sollte ich sagen Höhle. Es ist richtig steil, mit Kehren, zum Teilen losen Untergrund … gut dass ich nicht hier hochfahren muss.

Zum eigentlich Anstieg zur Alp Nurdagn, komme ich nach einer Überführungsphase im Tal. Aufgrund von seiner Länge und den zu bewältigenden Höhenmetern, der vermeintlich schwerste Berg im Programm. Für mich ganz das Gegenteil. Mit der in Dunkelheit getauchten Bergpanoramen, kann ich mich getrost auf die Steigung fokussieren. Wie ich finde ist der Berg gleichmäßig steil und im oberen Drittel wechselt der Wind von Kehre zu Kehre, mal vorn mal von hinten. Es geht so Richtung Geisterstunde, als ein Schotterweg mich vor der Berghütte ausspuckt. Ich sehe eine Person mit Taschenlampe, die mir Zeichen gibt. Jetzt nur noch Rad abstellen und rein in die gute Stube. Was für eine gute Stube! Vom ersten Moment an, als ich die Räumlichkeiten betrete, hat es mir die Alp Nurdagn angetan. „Schön“ klingt so einfach, aber so ist es in diesem Fall auch. Wie an Checkpoint 1 + 2 schon, treffe ich auch hier auf tolle Menschen, mit denen ich nach vielen Stunden auf dem Rad einfach mal plaudern kann. Eigentlich müsste ich dann mal wieder los, doch Tee und Kuchen laden mich zum verweilen ein, … und es ist so schön warm in der Hütte. Ein Großteil der Teilnehmer/-innen, die in den Abendstunden hier ankommen, bleiben bis zum Sonnenaufgang. Nach dem Kauf von Postkarten, sitze ich dann doch wieder auf dem Rad. Eine Sache fällt mir noch auf: Ist etwas frisch, ich hätte Beinlinge mitnehmen sollen.

  

Live Tracking

Ein schwarzer, blinkender Kasten, kleiner als ein handelsübliches Mobiltelefon, aber seine Wirkung auf die Menschen ohne Startnummer hat mich erstaunt. Im Rennen nutze ich nur wenig das Telefon, somit auch nicht die Möglichkeit, meine Position auf der virtuellen Landkarte in Erfahrung zu bringen. Was die Menschen über ihre digitalen Empfangsgeräte z.B. an den Checkpoints sehen, blende ich überwiegend aus. Meine lange Wanderung ist doch etwas außergewöhnlich für diese Veranstaltung, denn so berichten es mir die Checkpointfamilien in St. Martin, dass auch Sie mich die ganze Zeit online verfolgt haben. Die Nachrichten, die mich erreichen zeugen auch von dieser Faszination. Falk, ein Freund ist ein Absender, nur antworte ich nur unzureichend auf seine Nachrichten. Auch meine Frau lässt den Rechner durchgehend laufen. Als auf meiner Wanderung der Tracker dann mal kein Signal sendet, sind die Sorgen groß bei meiner Familie. Alles gut, ich bin noch da. Meine Frau ist begeistert von der Möglichkeit, mich in dieser Form zu begleiten! Am Montag auf Arbeit kommt Siggi mit ausgebreitetem Armen auf mich zu, er umarmt mich, er ist begeistert, auch er hat im Live Tracking mitgefiebert.

 

Checkpoint 4: Obermutten – Wieder wandern

Es ist eine einsame Nacht. Nach meinem Aufbruch von Alp Nurdagn kommen mir in der Abfahrt noch vereinzelte Sackgassenerkundler entgegen. Von den Strapazen des Tages gezeichnet, nehmen sie vereinzelt schon die letzten Höhenmeter zu Fuß in Angriff. Bis ins Tal passiert nicht viel, der nächste Anstieg beginnt mit Schotter. Schotter, ich dachte die Zuwegung einer jeden Sackgasse ist asphaltiert? Was spielt das schon für eine Rolle. Das Licht vom Radcomputer leuchtet mir sporadisch die notwendigen Informationen ins Gesicht, meine Lampe erhellt den Weg entsprechend meinen Lenkbewegungen von links nach rechts. Was mich aus dem dunklen Wald heraus in Augenschein nimmt, bleibt mir verborgen, doch die Geräuschkulisse zeugt von Leben im Unterholz. Aus Schotterweg wird Wiese, aus Wiese wird Trail, aus Kurbelumdrehungen wird mal wieder nix, denn ich wandere erneut. Halb vier Uhr in der Früh ist diese Form der Freizeitausgestaltung irgendwie bedenklich. Wurzeln, größere Absätze, jeden Schritt überlege ich mir zweimal. Mit der Radlampe in der Hand versuche ich diesen Pfad so gut es geht zu beleuchten. Was machen die Leute mit Nabendynamo nur, die bei Nacht hier durchwackeln? Schwupp di wupp, schon bin ich bei Checkpoint 4, sitze bei Cola und Kuchen, erzähle meine Geschichte des Tages den beiden Goldstücken, die sich für uns die Nacht um die Ohren hauen.

 

Die Protagonisten – „Sei kein Arsch“

Es sind zusammen 90 Teilnehmer und Teilnehmerinnen, die das Glück hatten bei der Verlosung Ende Februar aus den knapp 600 Bewerbungen ausgelost zu werden. Ab 17 Uhr am Donnerstag begrüßt der Gründer und Organisator Dominik Bokstaller die 90 Auserwählten persönlich. Wir sind ein bunter Haufen, der sich da am Freitag in St. Gallen einfindet und als gemeinsamen Nenner Radfahrten in XXL bevorzugt. Ob besonders schnell, oder erst nach zwei, drei Nächten im Ziel. Wer die Linie überquert, wird von den Leuten vor Ort mit einem Applaus empfangen. Zu erfahren, welche Platzierung es am Ende geworden ist, oder gar eine Ergebnisliste ist nicht das Wichtigste. Jede und jeder hat nach vielen Stunden auf dem Velo das ganz eigene Erlebnis am Gepäckträger festgeschnürt, welches noch bei der Abschlussveranstaltung besprochen werden will.

Mit einer E-Mail im Juni, in der uns Dominik daran erinnerte, unsere geplanten Routen pünktlich bei ihm abzugeben, schloss er den Abschnitt zum Regelwerk mit den Worten: „Sei kein Arsch!“ Kurz und klar in der Aussage, großartig. Ich habe niemanden in diesen Tagen kennengelernt, der sich danebenbenommen hat. Unterwegs haben wir einander immer mit einem Lächeln gegrüßt. Konkurrenzkampf? Fehlanzeige! Auch nebeneinander fahren und quatschen war mal möglich, so konnte auch keiner Windschatten erhaschen. Und am Ende gewinnt nach 19,5h Ben. Er sitzt tief in der Nacht im Sessel bei Dominik und streckt eine Stange Rhabarber in Richtung Zimmerdecke. Viel, viel später sitze ich neben ihm, ich versuche zu verstehen, wie das geht. Es gelingt mir nicht. Ein guter Typ!

Die Leute an den Checkpoints waren eine besonders große Freude. Die hatten irgendwie alle Bock. Auch wenn es mal regnete, die Müdigkeit nur schwer zu unterdrücken war, gab es Stempel, Kuchen, und eine aufbauende Unterhaltung war meistens auch noch mit dabei. Mit diesem kleinen Teilnehmerkreis, dem persönlichen Umgang und Leuten an den richtigen Stellen, die mit Lust bei der Sache sind, ist die Veranstaltung so angenehm.

 

Checkpoint 5: Kamor – Hätte ich dich heut erwartet …

Den Checkpoint Obermutten verlasse ich nach Nordwesten. Nach einem kurzen, heftigen Aufstieg geht es über einen buckligen Wiesenweg abwärts. Zur Mitte der Abfahrt ist Schluss. Erst mit dem Rad, dann zu Fuß irre ich umher auf der Suche nach meinem Weg. Was Komoot mir als feuchten Traum der ultimativen Routenfindung verkaufen möchte, ist dem Wald anscheinend völlig fremd. Mit Lampe in der Hand streune ich durchs Unterholz, … nichts! Verzweifelt sitze ich neben meinem Rad, Gedanken kreisen: Gehe ich weiter, ohne zu wissen, was da kommt? Kehre ich um zum Checkpoint 4 in der Hoffnung auf einen Geistesblitz? Ich tue mich schwer mit der Entscheidung. Schlussendlich gehe ich zurück. Mehr als gehen wird es auch nicht, denn alle Rahmenbedingungen lassen die fahrende Option nicht zu. Mühselig schleppe ich meine Rad aufwärts, mal wieder verliere ich wertvolle Zeit durch mangelhafte Planung. Diese unnötigen Fehler strengen mich unglaublich an.

Mit dem ersten Klick ins Pedal rekelt sich auch der neue Tag so langsam aus der Nachtruhe. Es sind 75min vergangen und ich bin wieder da wo ich schon war. Der Mann vom Checkpoint hat meinen Weg am Bildschirm verfolgt und steht mit Fragezeichen der Fürsorge vor mir. Da ich körperlich intakt bin, muss er sich keine Sorgen machen. Ein kurzer Blick auf die Karte verrät, nach Osten windet sich eine Straße gen Tal. Das wäre dann wohl der zivilisierte Aufstieg gewesen. In Windeseile geht es dem Tal entgegen nach Thusis. Hier war ich am Tag zuvor schon, biege fast ab auf die Autobahn nach Chur, verkneife es mir am Ende dann doch als Verkehrsmeldung im Radio zu enden. Thusis nach Tamins, durch Chur, flach am Rhein entlang. Dieser Abschnitt am Rhein ist so langweilig! Es ist so langweilig, dass der Abzweig über eine Brücke nach Lichtenstein mein Höhepunkt in den Morgenstunden ist.

Letzter Berg, der Kamor. Es ist vermutlich der schönste Berg in meiner Reihenfolge, denn weder Dunkelheit noch Nebel verwehren mir den Blick auf die Schönheit der Umgebung. Nach der Hälfte des Berges stehe ich komplett still. Eine halbe Flasche Flüssigkeit bleibt noch für den Aufstieg, die Sonne brennt, keine Ahnung wie das funktionieren soll. Die Gelbeutel 14 + 15 müssen es richten. Wann der letzte Schluck getrunken wird, überlege ich mir ganz genau. Steilere Passagen gehe ich zu Fuß, den „Rollerpart“ bewältige ich im Sattel. Es wird nicht mehr besser, dafür die Höhenmeter weniger. Mit dem Gipfel im Blick gehe ich erneut zu Fuß. Es ist in diesem Moment so steil auf Asphalt, dass meine Radschuhe bei jedem zweiten Schritt etwas wegrutschen. Vom Gipfel höre ich Anfeuerungsrufe, also zurück aufs Rad und anständig den fünften Gipfel bezwingen. Fünf, sechs, sieben Frauen– keine Ahnung wieviel es waren – begrüßen mich mit einem Lied: „Hätt ich dich heut erwartet, hätte ich Kuchen da, …“ Diese Begrüßung ist die Kirsche auf meinem Kuchen. Niedersinken und innehalten, jetzt ist es fast geschafft. Wir plaudern noch ein wenig und meine Stempelkarte ist schon fast komplett.

 

Arrivée

Der letzte Abschnitt ist vermutlich auch der kürzeste. Einfach ist es nicht, denn eine Wiese mit Kühen und ein Trail wollen noch zu Fuß erklommen werden. Als ich wieder eine Straße erreiche plane ich um. Es geht lange runter durchs Appenzeller Land, natürlich auch wieder hoch, bis eine Tankstelle mir mit Limo wieder Leben einhaucht. Von dort noch 12 Kilometer ins Ziel. Easy, oder? Meine direkte Planung, gönnt mir noch eine 18% Rampe. Am letzten Checkpoint wurde mir noch die Info mit auf den Weg gegeben, dass ich um den 11. Platz fahre. Mein Schlafverzicht hat sich also ausgezahlt und so meine verfehlte Routenplanung in Teilen kompensiert. St. Gallen ist erreicht, die Zielankunft erwartet mich. Mit einem tosenden Applaus werde ich von Dominik und drei Teilnehmern empfangen. Mit Applaus wird alle bedacht, die das Ziel erreichen. Mit dem letzten Stempel ins Kuchenheft bin ich durch, aber so richtig durch. Dieses Rennen hat mir jede Emotion von schlimm bis großartig mit in die Arschrakete gepackt. Danke, dass ich teilnehmen durfte!

 

Epilog

Neun Stunden Schlaf vergehen, als mich die Sonne wachküsst. Eine erste Bewegung meinerseits ruft ein Knarzen hervor. Breche ich gerade auseinander? Noch nicht. In dem 300 Jahre alten Holzhaus in dem ich nächtige, quittiert jedes Bauteil meine Bewegungen mit einem Knarzen. Warum trage ich Beinlinge zum Schlafen? Ach ja, diverse Hautverletzungen würden nur die Bettwäsche einsauen. Und der Kopf? Alles was schiefgelaufen ist auf meiner Route, hat seine Bedrohlichkeit verloren. Die Menschen, die Checkpoints, die Berge strahlen heller, als ohnehin schon. Also für Dead Ends & Dolci bin ich bereit. Wo kann ich mich anmelden?

 

Strava

 

Beste Grüße

 

vom Rosenkavalier

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Gaystar (Donnerstag, 27 Juli 2023 23:50)

    Oh what a wonderful ride... Uller, einfach nur geil! Respekt!! Eigentlich würde ich schon längst schlafen, aber dann machte ich den Fehler und warf nur gaaanz kurz einen Blick auf die ersten Zeilen ;-)

  • #2

    Barbara Trommer (Samstag, 29 Juli 2023 11:02)

    Ha, wie immer bei deinen Texten... sofort in den Bann gezogen worden
    Erinnerungen an eigene schräge verrückte Abenteuer... und schon wird klar.. So ein Erlebnis und nicht nur easy peasy kuchen naschen... Bleiben echt eingearbeitet in den Lebenserinnerungen - welche ja oft verblassen oder erst garnicht wahrgenommen geschweige denn gespürt werden.
    Nicht nur, was du erlebt hast... es anderen so nah, ehrlich, heiter und kurzweilig andere teilhaben zu lassen... Ein riesiges Danke dafür. Chapeau
    Aus der Eifel grüßt Barbara